Kerstin Werner: "Amedea und die goldene Spinne"

 

Weitab von der Stadt, auf der anderen Seite des Flusses, erstreckte sich ein uralter Wald. Ängstliche Zungen behaupteten, eine böse Hexe treibe dort ihr Unheil, tatsächlich aber lebte dort eine alte Frau in einer ärmlichen Hütte. Hätten die Menschen ihr ein einziges Mal tiefer in die Augen geblickt, hätten sie gesehen, wie warm und weise ihre Augen leuchteten. Ihr langes weißes Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden und lösten sich vom Wind einzelne Strähnen heraus, schwebten sie wie Daunenfedern um ihren Kopf.

Die alte Frau liebte die Waldeinsamkeit. Oft saß sie stundenlang am Feuer, horchte in die Stille und wusste vieles über die Menschen, die auf der anderen Seite des Flusses lebten. Und wenn das Feuer niedergebrannt war, stand sie auf, schulterte ihren Weidenkorb und begab sich tiefer in den Wald, um Kräuter zu suchen.

Doch eines Tages durchbrach ein lautes Wehklagen die Stille des Waldes. Unter einem Baum lag in eine Decke gehüllt ein neugeborenes Kind. Es schrie so jämmerlich, dass die Alte Mitleid bekam und das Kind behutsam in ihre Hütte trug. Sie gab ihm zu trinken und wiegte es in ihren Armen, doch schon bald bemerkte sie, dass das neugeborene Mädchen blind war. Sie behielt es bei sich und nannte es Amedea.

So verging die Zeit und Amedea wuchs zu einem schönen Mädchen heran. Die alte Frau brachte ihr alles bei, was sie zum Leben brauchte. Amedea lernte das Sprechen und Laufen, und weil ihr das Augenlicht fehlte, begann sie sich an den Düften zu orientieren. Mit ihren Händen ertastete sie jeden Stein, jede Pflanze und auch jedes Tier, dass sich zutraulich ihr näherte.

Amedea war ein kluges Kind. Schon mit dreizehn Jahren konnte sie alle Kräuter des Waldes unterscheiden und wusste, wozu sie gut waren und wie man daraus einen Tee oder eine Medizin zubereitete. Amedea verrichtete jede Hausarbeit und die Alte war zufrieden. Wenn sie gemeinsam im Wald Kräuter sammelten, sang Amedea mit den Vögeln, tanzte mit den Schmetterlingen und die Alte setzte ihr eine goldene Spinne ins Haar. Der kleine runde Körper der Spinne fühlte sich an wie Seide, und wenn die Spinne mit ihren dünnen Beinchen Amedeas Arm streifte, verstand das Mädchen, was die Spinne ihr erzählte.

Als der kalte Winter hereinbrach, führte die Alte Amedea an das Spinnrad. So lernte das Mädchen das Spinnen, später auch das Weben und Nähen, und weil sie sich sehr geschickt anstellte, webte sie bald ihr erstes Kleid. So vergingen die kalten Wintertage. Doch immer, wenn Amedea am Spinnrad saß und in ihren rhythmischen Bewegungen versunken war, begann sie traurige Lieder zu singen. Ihre Lieder waren so voller Sehnsucht, dass der alten Frau das Herz wehtat.

Als Amedea siebzehn Jahre zählte, sprach die Alte zu ihr: „Mein liebes Kind, nun ist es an der Zeit, wo du hinaus in die weite Welt musst, um die Menschen und das Leben in der Stadt kennenzulernen! Hier im Wald kannst du nicht bleiben, die Einsamkeit soll nicht dein einziger Gefährte sein. Die goldene Spinne wird dir den Weg zeigen und dich beschützen.“

Am nächsten Morgen verabschiedete sich Amedea von der alten Frau, dankte ihr für alles und umarmte sie fest. Die Alte lächelte, strich mit ihrer rauen Hand zärtlich über Amedeas Haar und setzte ihr die goldene Spinne hinein.

Noch lange stand die Alte vor ihrer Hütte und winkte dem Mädchen nach. Erst als Amedea nicht mehr zu sehen war, stieß die alte Frau einen lauten Seufzer aus und ging in ihre Hütte hinein.

Viele Stunden durchquerte Amedea den dunklen Wald, und als die Sonne hoch am Himmel stand, lag der Wald hinter ihr. Amedea wollte sich gerade ein wenig ausruhen, als sie hinter sich schnelle Schritte vernahm. „Warte, schönes Mädchen!“, rief die Stimme eines Jünglings. „Wo willst du hin, so allein?“

Dorthin, wo die Menschen sind“, antwortete Amedea.

Dann musst du in die Stadt“, sagte der Jüngling. „Wenn du willst, führe ich dich dorthin.“

Amedea nickte und hielt ihm ihre offene Hand entgegen. Verwundert blickte der Jüngling sie an, und erst jetzt sah er, dass sie blind war. Er nahm ihre Hand und führte das Mädchen über eine große Wiese, bis sie an eine Holzbrücke gelangten, die den Fluss überquerte. Beide erfrischten sich am Flussufer, tranken von dem kühlen Wasser und erzählten, woher sie gekommen waren und was sie alles gelernt hatten. Der Jüngling hieß Santo und arbeitete als Gärtner beim König. „Ich bringe dich zu einer kleinen Weberei“, sagte er. „Die Leute sind gut und freundlich, bestimmt werden sie dich aufnehmen.“

Endlich erreichten Santo und Amedea das Stadttor. Das lärmende Treiben der Menschen erfüllte die Luft. Sie liefen durch die engen Gassen, und bald schon blieben sie vor einem gelben Haus stehen. Santo klingelte und ein Mann öffnete die Tür. Er ließ die beiden herein, und Santo erzählte, wie gut Amedea spinnen, weben und nähen kann und bat um Anstellung. Doch der Weber schüttelte den Kopf, denn er hatte bemerkt, dass Amedea blind war. „Ich kann das Mädchen nicht nehmen“, sagte er. „Sie muss sehen können, was sie webt. Unsere kostbaren Wandteppiche sind in aller Welt gefragt, vor allem die Königin zahlt mir gutes Geld dafür, da kann ich mir keinen Fehler leisten.“

Amedea sieht mit ihren Händen“, erwiderte Santo. „Bitte geben Sie ihr drei Probetage und überzeugen Sie sich von ihrem Können!“ Dann holte Santo aus seinem Säckchen eine Goldmünze heraus und gab sie ihm. Der Weber sah die Münze und willigte ein: „Drei Tage, aber keinen einzigen mehr!“

Doch schon am ersten Tag staunte der Weber, wie gut Amedea ihr Handwerk verstand. Am zweiten Tag gewann er Vertrauen und führte sie an die Arbeit eines Wandteppichs heran, der für die Königin bestimmt war. Der Weber ordnete die Wolle nach Farben, benannte sie in der Reigenfolge und beschrieb ihr jedes Detail, wie der Teppich auszusehen habe. Amedea hörte aufmerksam zu und webte von früh bis spät, und wenn sie nachts müde wurde, legte sie sich auf den Fußboden, um einige Stunden zu schlafen.

Am dritten Tag beendete Amedea ihre Arbeit. Der Weber war sprachlos. Noch nie hatte er einen so schönen Wandteppich gesehen! Alle Farben hatte sie in der richtigen Reihenfolge angeordnet, und suchte man nach einem Fehler, konnte man keinen finden. Und doch schimmerten die Farben des Teppichs anders als sonst. Es schien, als wäre ein hauchdünner goldener Faden mit eingewebt worden.

Niemand hatte die Spinne gesehen, die sich in Amedeas Haar versteckt hielt und goldene Fäden hinabgleiten ließ. Nur die Alte, weitab von der Stadt, konnte sehen, was niemand sah.

Am nächsten Morgen überbrachte man der Königin den golddurchwirkten Teppich. Erstaunt betrachtete sie das Kunstwerk. „Ich will das Mädchen sehen, das so einen schönen Teppich weben kann!“, rief sie, und als Amedea wenige Stunden später den Königsaal betrat, musterte die Königin das Mädchen von Kopf bis Fuß und sprach: „Sag, wer hat dir das Weben beigebracht?“

Meine Mutter war es, gnädige Frau“, antwortete Amedea.

Schau mich an, wenn du mit mir sprichst!“, befahl die Königin.

Meine Augen können nicht sehen, gnädige Frau.“

Du bist blind? Wie ist das möglich? Wie konntest du …?“ Entsetzt sprang die Königin auf, begann am ganzen Leib zu zittern und schrie mit angsterfüllter Stimme: „Eine Hexe! Seht ihr es nicht, eine Hexe ist sie! Lasst sie sofort einsperren! Auf den Scheiterhaufen gehört sie!“

Daraufhin wurde Amedea in ein dunkles Kellerverlies gesperrt. Als die schwere Tür ins Schloss fiel, regte sich die goldene Spinne in Amedeas Haar und ließ seidene Fäden in ihren Schoß hinabfallen. Amedea verstand die Botschaft und webte daraus ein Kleid, und kaum hatte sie es übergestreift, stand die Alte vor ihr und sprach: „Hab keine Angst, mein Kind! Solange du das seidene Kleid trägst, werde ich bei dir sein und dich vor Gefahren schützen.“ Nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, umarmte sie Amedea und war im selben Augenblick verschwunden.

Am Abend, als die Sonne glutrot am Himmel stand, führte man Amedea zur Richtstätte. Eine große Menschenmenge wartete bereits, und auch Santo war gekommen. Schon wollten die Henker Amedea auf den Scheiterhaufen binden, da trat Santo hervor und rief: „Halt! Das Mädchen ist unschuldig! Lieber möchte ich sterben, als dass ihr ein Leid zugefügt wird!“

Dann trat die Alte hervor und sprach: „Das Mädchen ist nicht nur unschuldig, sie ist auch die wahre königliche Tochter! Vor siebzehn Jahren fand ich sie im Wald, und wenn ich das neugeborene Kind nicht zu mir genommen hätte, wäre es heute nicht mehr am Leben. Niemals werde ich zulassen, dass ihr ein weiteres Leid geschieht!“

Ein empörtes Raunen ging durch die Menschenmenge. Die Königin aber war außer sich vor Wut. Und als der König das sah, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Alte hatte die Wahrheit gesprochen! Seine Tochter war nicht tot, wie es die Königin vor siebzehn Jahren kurz nach der Geburt behauptet hatte. „Lasst das Mädchen frei!“, rief er und Tränen füllten seine Augen. Die Königin ließ er sofort einsperren, denn gerechte Strafe musste sein.

Amedea spürte einen tiefen Riss in ihrer Seele und kehrte noch am selben Abend mit der Alten zurück in den Wald.

Und so verging die Zeit. Doch als der Vollmond ein siebentes Mal am schwarzblauen Himmel stand, wünschte sich Amedea nichts sehnlicher, als Santo wiederzutreffen. Auch den König und die Königin wollte sie besuchen.

An einem klaren Frühlingsmorgen verabschiedete sich Amedea von der Alten und machte sich, mit der goldenen Spinne im Haar, erneut auf den Weg zum königlichen Schloss.

Der König war überglücklich, als er Amedea erblickte, und weil das Mädchen es sich wünschte, führte er sie zur Königin, die noch immer im Kellerverließ saß.

Bitte verzeih mir, gutes Kind“, schluchzte die Königin und vergoss bittere Tränen der Reue. „Meine Angst war es, meine schreckliche Angst. Niemals hätte ich dich im Wald aussetzen dürfen, aber nun ist es zu spät. Bitte vergib mir!“

Reue ist niemals zu spät“, sagte Amedea und bat den König, sie wieder frei zu lassen. Und so geschah es.

Doch was für eine Freude, als Amedea und Santo sich im königlichen Garten begegneten! Sie fielen sich in die Arme und ließen sich nicht mehr los. „Willst du meine Frau werden?“, fragte Santo.

Ja, das will ich“, antwortete Amedea.

Der König trat hinzu und fragte das junge Paar, ob sie nicht für immer auf seinem Schloss wohnen möchten, doch Amedea und Santo waren sich einig, dass ihre wahre Heimat sich auf der anderen Seite des Flusses befand.

Hand in Hand ließen sie den Lärm der Stadt hinter sich und folgten dem Rauschen des Flusses und der Stille des Waldes. Das kleine Lehmhaus, das am Ende ihres Weges in der Sonne aufblitzte, hatte Santo selbst gebaut, und der Garten, der in voller Blüte stand, war wunderschön anzusehen. Amedea sog die entgegenströmenden Düfte ein, lauschte dem Gesang der Vögel und dem Summen der Bienen. Als sie durch das Gartentor schritt, ertastete sie mit ihren Händen jeden Baum, jede Pflanze, setzte behutsam die goldene Spinne ins Gras und grub ihre Hände in die weiche Erde. Endlich war sie daheim.

 

Ein wunderbares Märchen mit allen Märchen-Elementen, und trotzdem modern.

Eine nette Beschreibung der alten Frau, die als Hexe gilt, und des Zusammenlebens der drei Wesen, der alten Dame, dem blinden Mädchen und der Spinne. Die Erziehung der jungen Frau, die auch von Selbständigkeit geprägt ist, in der die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben angedeutet wird.

Die Trauer der Ziehmutter, die ungern loslässt. Als Weberin bewährt sie sich trotz ihrer Blindheit, eine Ermutigung für Leser, nicht aufzugeben. Auch wenn sie Hilfe hat, ihr eigenes Bemühen ist grenzenlos. Ihre Arbeit trägt zur Schönheit der Welt bei. Auseinandersetzung mit Vorurteilen. Die große Liebe.

Besonders gefällt mir der Schluss: der Verzicht auf ein grandioses Leben in Abhängigkeit; die beiden Verliebten wählen ein bescheidenes, unabhängiges Leben.

 

Quelle

 

Literaturpodium

 

Von Goldmünzen und Dämonen. Märchen, Fantasie- und Spukgeschichten“.

 

Von Goldmünzen und Dämonen

 

Märchen, Fantasie- und Spukgeschichten

 

Karsten Beuchert, Brigitte Kähler-Chau, Heidi Axel

 

408 Seiten, 2017