Thomas Schubardt Modernes Märchen

Erzählung mit allen Elementen eines Märchens; der Schuss Ironie macht es modern.

Der Gärtner und seine Gehilfen

 

Das Märchen

Jenseits der Abendsonne, wo sie über den Gipfeln der Berge funkelt, lag ein weit entferntes Land; ein Kontinent, der aber schon vor langer Zeit versunken ist. Auf diesem Kontinent lebte ein König, der über das größte und gewaltigste Reich herrschte, dass die Menschen damals kannten.
Der König hatte es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, seinem Herrschaftsgebiet ständig neue Länder hinzuzufügen. Neben dem Krieg, dem er sich verschrieben hatte, galt aber seine ganze Freude der Rosenzucht. In dem großen Park, der den Palast umgab, erblühten die herrlichsten Rosen in allen Farben. Ihr Duft wurde von den Winden in alle Himmelsrichtungen bis in die hintersten Dörfer des Königreichs getragen.
Nicht umsonst führte der König zwei rote Rosen in seinem Wappen, das er stolz bei seinen Feldzügen mit sich trug. Es hatte ihm immer Kriegsglück beschert.
Nun war aber dieses blühende Meer von Rosen nicht das Werk des Königs selbst, sondern das seines Gärtners Johann.
Johann hatte einst im Kriege gedient, war verletzt und dann vom König zum Leibgärtner ernannt worden. Er hatte eine Magd aus dem nächsten Dorfe geheiratet und sich mit ihr in einer kleinen Kate im hintersten Winkel des Schlossparks eingerichtet.
Johann hatte das, was man gemeinhin als “goldene Hände“ bezeichnet. Alles, was er anfasste, gelang ihm. Als Gärtner war er unvergleichlich. Unter seinen Händen gediehen die seltensten Blumen aus fernen Ländern genauso wie Hecken, Sträucher und Bäume der heimischen Gefilde. Nie ging etwas ein, selbst im Winter nicht.
Keiner wunderte sich darüber. Es war eben so.
Doch eigentlich verbarg sich dahinter ein Geheimnis.

Von seiner jungen Frau, der Magd aus dem Dorfe, hatte Johann zur Trauung eine kleine goldene Dose zum Geschenk erhalten. Diese Dose enthielt eine Zauberessenz; einen Balsam mit dem Geist der Pflanzenwelt darin. Er musste nur seine Finger damit benetzen, um aus den kärglichsten Stengeln Knospen und Blüten hervor zu zaubern.
So war es Johann, der des Königs üppigen Rosengarten schuf.
Wovon der König nichts ahnte:
Die schönste Rose erblühte in Johanns kleinem Häuschen am Ende des Parks.
Die Magd hatte ihm nämlich bald ein kleines Mädchen geboren, Lucinde.
Nach der Geburt war die junge Mutter zu Johanns großem Gram im Wochenbett gestorben. Nun hatte er nur noch das Mädchen. Er zog es auf.
Lucinde wurde älter und mit jedem Jahr mahm ihre Schönheit zu.
Jeder, der ihr begegnete - und das waren nicht viele, denn der Vater hütete Lucinde wie seinen Augapfel - erstaunte fürwahr als er das Mädchen sah.
Vor allem aber war es Johann darum zu tun, dass der König Lucinde nicht zu Gesicht bekam. Er kannte den habgierigen Charakter seines Herrn und wusste, was dann folgen würde.
...und so kam es.

Eines Tages wagte sich das Mädchen, angezogen von der prunkvollen Fassade des Palastes und dem fröhlichen Lärm eines Festes, das dort gegeben wurde, aus dem Schatten der Bäume hervor.
Als der König Lucinde erblickte, war es augenblicklich um ihn geschehen.
Von einem seiner Domestiken erfuhr er, dass Lucinde die Tochter seines alten Gärtners sei. Da war er sich seiner Sache ganz sicher, denn nie würde es Johann wagen, ihm einen Wunsch - oder sagen wir besser seinen Willen - abzuschlagen.
Er betrachtete Lucinde bereits als sein Eigentum als er höchstselbst auf der Schwelle der kleinen Kate bei Johann erschien.
Der alte Gärtner staunte nicht schlecht, als er seine Majestät dort stehen sah.
Darauf setzte der König Johann nachdrücklich seinen Willen auseinander, Lucinde mit sich auf das Schloss zu nehmen. Nun war es allerdings an seiner Majestät in Erstaunen zu geraten, denn Johann war keineswegs bereit, dem vernarrten Herrscher seine Tochter zu überlassen.
Wie nicht anders zu erwarten, folgte ein hoheitlicher Wutausbruch wie ihn Johann schon des öfteren hatte über sich ergehen lassen müssen; einzuschüchtern war er damit nicht mehr.
So griff der König zu drastischeren Mitteln. Er wies seinen Richter an, die Häscher auszusenden, um das Mädchen in den Palast zu zerren. Die Schergen konnten sie aber nirgends finden und arretierten darum den alten Gärtner.
Sie schleppten ihn vor den König. Der schrie ihn an.
“Wo hast du deine Tochter versteckt, Elender? Kennst du keine Dankbarkeit? Ich will sie haben oder du verbringst den Rest deines Lebens im Verlies!“
Johann blieb ganz ruhig.
“Sie ist nicht mehr bei mir. Sie ist jetzt in einer anderen Welt.“
Der König verstand das nicht. Er ließ Lucinde im ganzen Reich suchen; Johann aber sollte im Kerker verschmachten.

Bald begannen die Rosen ihre Blüten zu verlieren.
Dicht wie Regentropfen stoben sie in alle Richtungen davon und füllten die Luft mit ihren Düften und Farben.
Sie fielen auf Äcker und Felder, landeten in Seen und trieben mit den Flüssen dem Meere zu.
Als der König das sah, hielt er inne. Musste er seine geliebten Rosen für das Mädchen opfern?
Ach was, dachte er, es gibt noch andere tüchtige Gärtner. Und so stellte er einen neuen Gärtner ein.
Doch der konnte dem großen Sterben keinen Einhalt gebieten. Der König jagte ihn davon...und so erging es noch einigen Vertretern dieser ehrbaren Zunft.
Schließlich resignierte der König. Offenbar war Johann der Meister aller Gärtner; der einzige, der die Rosenzucht hätte retten können. Doch hier versperrte des Königs Stolz die Lösung des Problems: Insubordination musste unter allen Umständen hart bestraft werden.
So nahm das Schicksal seinen Lauf.
Die Rosen welkten dahin und starben. Das Rosenwappen verlor seine Kraft und das Kriegsglück verließ den König. Er wurde besiegt.

Eines Tages hatten die Feinde das Schloss umstellt und forderten vom einst mächtigsten Herrscher des Kontinents die demütigende Prozedur der Kapitulation. Nun erst entsann er sich wieder seines alten Gärtners.
Er stieg zu ihm in das Kellerverlies hinab, gab Johann die Schlüssel und blieb völlig entmutigt zurück.
Johann übergab die Schlüssel den neuen Herren des Landes und durfte dafür im Park wohnen bleiben.

Was aber war mit Lucinde geschehen? Warum hatte sie niemand finden können?
Noch bevor die Häscher des Königs bei der kleinen Kate anlangten, hatte Johann seine Tochter mit dem Balsam verzaubert. Er verwandelte sie in einen blühenden Rosenstock im Schatten einer alten Ulme nahe beim Haus. Seine roten Blüten waren die einzigen, die das große Rosensterben überlebt hatten.
Er blühte weiter, als die anderen Rosen des Gartens schon lange verkümmert waren.

Als Johann - nun ein freier Mann - seine Tochter vom Zauber lösen wollte, fand er die goldene Dose offen auf dem Boden liegen. Kein Balsam war mehr darinnen.
Wie sollte er Lucinde zurückholen? Es gab keinen Ersatz für den einzigartigen Inhalt.
Johann musste in seiner Verzweiflung selbst eine Mixtur herstellen. Tag für Tag lief er umher, sammelte alle Kräuter die er finden konnte und experimentierte damit Tage und Nächte hindurch. Er suchte den Rat der Frauen in den Dörfern, doch auch sie konnten ihm nicht helfen.
Die Hoffnungslosigkeit übermannte ihn. Er wurde irr.
Täglich sprach er zu der Rose und pflegte sie mit väterlicher Zärtlichkeit. Mehr konnte er nicht tun.
Eines Abends umschlang er sie - ihre Dornen wurden weich, sodass nicht ein Kratzer des Vaters Arm verletzte - und sank tot hin.

Als die Leute Johanns Leichnam fanden, war nicht der Geruch des Todes an ihm, sondern der Duft junger Rosen. Er bewahrte den leblosen Körper vor dem Verfall. So begruben sie ihn.

Lucinde aber blühte in alle Ewigkeit weiter; bis der Kontinent in den Fluten des großen Ozeans versank.

Die Pointe:
Johanns Katze hatte mit der Dose gespielt und sie war zu Boden gefallen. Der Deckel sprang auf und die Katze begann den Balsam auszulecken. Er schmeckte ihr vorzüglich.
Bald darauf verwandelte sie sich in ein wohlriechendes Katzenkraut, das hinter dem Häuschen wucherte.

Rotfuchs-Schmetterling

Quellen

 Schubardt, Thomas: Modernes Märchen. SdS Hamburg 2017