Die Krähe - ein europäischer Mythos
Die Krähe - ein mythisches Motiv

Die Morrigan heute

 

Die Zeit, eine Illusion?

Die Zeit, eine Illusion? Durch das kleine quadratische Treppenhausfenster sehe ich den Mond, er liegt in Wolkenwirbeln versunken wie auf dem Grund einer Sahneschüssel. Die Sonne hat ihm einen zerwühlten, nassgeschwitzten Himmel bereitet und ist aufgestanden, um ihm das Bett für ein paar Stunden zu überlassen in dem es dunkel sein wird und ruhig. Was für ein lächerlicher Irrtum. Die Wohnung ist kleiner als sonst, die Wände kommen auf mich zu. Ich muss hinaus, sonst ersticke ich. Durch das Treppenhausfenster scheint jetzt provokant die Maisonne. Ich laufe die Treppe hinunter, reiße die Eingangstür auf und japse nach Luft. Ihr warmer Atem will sich meiner erbarmen. Mit den Armen versuche ich ihn wegzuscheuchen. Die blühenden Bäume haben sich hinter einem grauen Schleier versteckt. Nicht mehr weinen, nicht mehr denken. Tränen habe ich ohnehin keine mehr. Wie viele Stunden hat der Tag? Ich beruhige sie und mich, bleibe fast eine Stunde an ihrem Bett sitzen und halte ihre Hände in den Meinen. Ist noch einmal alles gut gegangen, sagt meine Nachbarin, die in einem weißen Mantel erscheint, auf dem das Schild Oberschwester Herta wie ein Orden auf ihrem riesigen Busen prangt. Sie nimmt meiner Mutter die Schläuche aus der Nase. Der ist jetzt nicht mehr nötig, sagt sie, dein Blutdruck ist wieder normal und den Zucker kriegen wir schon wieder hin, gell, Irma. Sie tätschelt meine Mutter mit der freien Hand auf die Schulter und fährt ihr blödes, eingefrorenes Grinsen samt Sauerstoffgerät aus dem Raum. Der Blick meiner Mutter verrät, dass sie ihr misstraut. Morgen Früh komme ich wieder, sage ich und versuche meiner Stimme einen fröhlichen Klang zu verleihen, obwohl ich vor Zorn fast zerplatze. Wie kann sie mit meiner Mutter wie mit einer Unmündigen sprechen? Verleiht ihr der weiße Mantel das Recht, wo sie doch seit zehn Jahren Tür an Tür mit uns wohnt. Sei stark für deine Kinder, sagt meine Mutter. Ich schaue sie an, als hätte sie mir ein Rätsel aufgegeben, das ich nicht imstande bin, zu lösen. Vor der Glastür der Intensivstation, die ich von außen leise hinter mir zuziehe, bleibe ich mit dem Rücken angelehnt stehen. Meine Beine werden zu Gummi, ich rutsche an dem Glas hinunter und bleibe auf dem kalten Fliesenboden sitzen. Gebetet habe ich schon lange nicht mehr. Ich glaube nicht an Gott und er nicht an mich, aber jetzt tu ich es, ich bete. Nachdem ich mir die Wimperntusche vor dem Toilettenspiegel von den Wangen gewischt habe, die in schwarzen Bahnen über mein Gesicht hinuntergelaufen waren und sich in einem Delta auf meinen Hals ergossen hatten, gehe ich nochmal zurück. Vorsichtig, so als wäre die metallische Türklinke elektrisch geladen, drücke ich die Tür einen Spalt auf, und sehe wie meine Mutter schläft, oder die Augen nur geschlossen hält. Ich gehe auf Zehenspitzen auf ihr Bett zu und küsse ihre bleiche, schweißnasse Stirn. Sie schaut mich an. Das weiße in ihren Augen ist gelb. Sie lächelt mich an und sagt, ich liebe Dich. Ich liebe Dich? Zum ersten Mal seit dreißig Jahren höre ich diese Worte aus ihrem Mund. Worte, die mir gelten! Mir fällt auf, dass sie ihre Nägel manikürt, lackiert und sich die Augenbrauen gezupft hat. Während ich ihre Hände betrachte, beantwortet sie meine Gedanken. Ich gehe auf eine große Reise, sagt sie. Ich fühle mich wie in einem Film, indem ich eine Nebenrolle zu spielen habe. Ich höre einen Stein fallen, höre das, was ich hören will. Schwarze Krähen verlassen mich und fliegen vorerst davon. Vielleicht bekomme ich die goldene Himbeere für die schlechteste Schauspielerin des Jahres. Ich bitte den Friedhofswärter mit dem Schließen des schmiedeeiseren Tores noch eine Minute zu warten. Das Grab meines Vaters liegt gleich da drüben, heute ist sein Todestag, genau vor einem Jahr am Muttertag starb er auf der gleichen Intensivstation, wo jetzt seine Frau, meine Mutter, liegt, sage ich. Mein Anblick lässt ihn erweichen. Danke Gott, du barmherziger, unbarmherziger, grausamer Gott. Danke, dass du meine Mutter verschont hast. Die Stille wird unterbrochen. An Schlaf ist nicht zu denken. Eine Ahnung stürzt sich wie ein Ungeheuer auf mich. Wer ruft schon an, um fünf Uhr früh. Oberschwester Divizenz am Apparat, sagt sie. Ach du bist es Herta, sage ich. Was konnte schon sein, versuche ich mich zu beruhigen, wo doch gestern Abend noch alles in Ordnung war. Schreck dich nicht, sagt sie, aber deine Mutter ist letzte Nacht verstorben. Ich betrachte den Hörer wie ein exotisches, schwarzes Insekt, das meine Hand gebissen hat und lasse ihn fallen. Dann kauere ich mich in Embryostellung zusammen, so als könnte ich so das Gehörte von mir fernhalten. Meine Schließmuskeln vergessen ihre Aufgabe. Ich sitze in einer Lache aus Urin und wimmere wie ein kleines Kind vor mich hin. Schreck dich nicht!? Was ist das für ein Satz? Deine Katz ist überfahren worden. Dazu hätte er gepasst. Es stinkt. Ich wasche mich, werfe die nasse Wäsche in die Badewanne, hebe das Insekt vom Boden auf und rufe ein Taxi. Die Gefahr, mit dem Auto einen Unfall zu verursachen ist zu groß, aber eigentlich egal. Ein Hassgefühl durchströmt mich und lässt mich wie Espenlaub zittern. Fünfzehn Jahre sind eine Ewigkeit oder eine Sekunde. Die Zeit gibt es nicht. Ich sehe alles wieder vor mir, so als würde es im gleichen Augenblick geschehen. Sogar ihr Geruch hat sich nicht verändert. Oberschwester Herta steht eigehüllt in eine Wolke Apotheker und Schweißgeruch neben mir am Marktstand. Sie geht am Stock. Geschieht ihr recht. Ich kaufe je einen Bund Maiglöckchen und Veilchen. Ich tauche mein Gesicht in die Blumen und sauge den Duft tief in mich ein. Wie beruhigend ist dieser Geruch. Er riecht nach meiner Mutter. Morgen ist wieder Muttertag, sagt die Marktfrau. Ja, sage ich, aber er wird nie wieder so sein, wie er einmal war.

Melitta Sissa

 

Einsamkeitsvögel

Wie kann die Welt sich weiter dreh'n,
wenn alles in Scherben fällt!
So als wäre nichts gescheh'n
was uns zusammen hält?

War alles nur ein böser Traum,
auch gut- an manchen Tagen.
Doch wenn schwarze Vögel um mich zieh'n,
wie kann man das ertragen?

Wie kann die Welt sich weiter drehn,
sind wir ihr so egal?
Betrachtet man sie aus dem All
dann kann man das versteh'n.

Tun wir nur weiter unsere Pflicht,
probieren wir's noch mal.
Gott ignoriert uns sicher nicht,
er ist da, auf jeden Fall.

Quelle

Sissa, Melitta: "Die Zeit, eine Illusion" SdS Hamburg 2014