Europäische Erzählkultur: Die gestohlene Krone
Europäische Erzählkultur: Irische Erzählkultur

Die gestohlene Krone    
von Sinéad de Valera

 

Vor vielen Jahrhunderten lebten in einem wunderbaren Palast in der Nähe von Lough Corrib ein König mit Namen Flann und eine Königin mit Namen Fidelma. Sie hatten vier Buben und ein Mädchen mit Namen Eimer.

Die Leute, die im Königreich des Paares lebten, waren mit der Regierung zufrieden und alles war gut in diesem Land.

Nach und nach heirateten die Buben. Eimer war nun um die achtzehn Jahre alt, und sie war nun das einzige Kind im Palast. Die Eltern hätten gerne gehabt, dass sie einen ihrer vielen Bewerber heiraten würde, aber sie liebte einen jungen Häuptling mit dem Namen Shane; der war aber weder reich noch mächtig wie die anderen. Der Vater war mit ihrer Wahl nicht einverstanden, und sie konnte ohne seine Zustimmung nicht heiraten.

 

Es geschah nun etwas, das den Frieden und das Glück des Haushaltes empfindlich störte. Flann hatte eine wunderbare Krone. Viele seiner Vorfahren hatten sie schon getragen. Ein wertvoller Stein in der Krone brachte dem Träger Wonne, Frohsinn und Gelingen.

 

Eines Nachts gab es einen großen Ball im Palast. Helles Licht wurde angezündet. Musik, Gesang und Tanz dauerte viele Stunden. Freude und Heiterkeit erfüllte die Luft. Als die Fröhlichkeit vorbei war, fühlte sich der König müde. Er hastete zu seinem Schlafzimmer, ohne dass er auf seinen Diener wartete, der ihm helfen sollte. Er nahm seine Krone herunter und legte sie auf den Tisch neben der Tür. Plötzlich öffnete sich die Tür. Ein riesiger Arm mit einer riesigen Hand streckte sich zum Tisch aus, und wie ein Blitz war die Krone verschwunden. Einen Augenblick lang konnte der König weder denken noch sprechen. Als er sich von dem Schock erholt hatte, schrie er um Hilfe. Bald rannten im Palast alle dahin und dorthin, um die Krone zu suchen. Aber umsonst.

 

Die Einzige, die einen Schatten von dem Dieb gesehen zu haben schien, war die alte Brid. Sie war in der Nähe des Eingangs zum Palast gestanden und hatte ihn vorbei hasten gesehen, mit etwas Glitzerndem in der Hand. Bevor sie um Hilfe schreien konnte, hatten ihn seine langen Beine weit weg getragen. Sie konnte ihn nicht mehr sehen.

 

Brid war eine sehr alte Frau. Sie hatte schon im Schloss gelebt, bevor der König geboren war. Sie liebte die ganze Familie und wurde von ihnen geliebt. Der besonderer Liebling ihres Herzens war Eimar.

"Es macht keinen Sinn, das Haus oder den Grund zu durchsuchen, um den Dieb zu finden", sagte sie. "Es ist kein Anderer als der Riese vom Schwarzen Berg."

 

Der Riese war der Schrecken der Leute vieler Meilen im Umkreis. Seine Heimat war der Schwarze Berg. Der Berg wurde so genannt, weil niemals Gras auf ihm wuchs und seine Farbe ein düsteres Grau war. Rundherum war ein weiter Graben, so weit, dass niemand als der Riese selbst von der Straße zum Berg kommen konnte. Seine riesig langen Beine machten es möglich, sicher die breite Senke zu überqueren. Die Kluft war immer voll Wasser und so tief, dass die Leute sagten, sie sei bodenlos.

 

Der König war sehr traurig über den Verlust seiner Krone. Er ließ verkünden, dass der, der seine Krone zurück brächte, seine Tochter heiraten dürfe. Der armen Eimer gefiel das nicht, und sie suchte ihre geliebte Brid auf.

"Oh, Brid", klagte sie. "Kannst du nicht irgendetwas tun, dass Shane die Krone findet? Du, die du Freundin der Kobolde und Feen bist?"

"Shshsj, Liebste! Sprich nicht so über die Unsichtbaren! Meine Freundschaft zu ihnen muss ein wohl gehütetes Geheimnis bleiben!"

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"Aber Brid, was soll ich tun, wenn es nicht Shane ist, der die Krone findet?"

"Fürchte dich nicht. Ich werde für alles Sorge tragen."

 

Es war wahr, was Eimer über die Kobolde und Brid gesagt hatte. Sie war ein großer Freund von ihnen. Sie wartete bis Mitternacht des nächsten Tages und ging dann alleine zum Feenhügel, der sich in einiger Entfernung vom Palast befand. Der Mond schien hell. In dessen Licht sah sie ihre Koboldfreunde die Schönheit der Nacht genießen. Sie hörten auf zu tanzen, als Brid sich näherte.

"Willkommen", sangen sie im Chor. "Was ist dein größter Wunsch?"

 

Brid dankte ihnen und erzählte ihnen über die gestohlene Krone. Ein kleiner Mann löste sich von den anderen und sagte: "Wir werden dir helfen, denen zu dienen, die du liebst. Denn du bist unser treuer Freund."

"Aber," sagte Brid, "der Riese ist mächtig und sehr böse, und es ist unmöglich, sein Haus in den Schwarzen Bergen zu erreichen."

"Unsere Macht ist größer als seine", sagte die Koboldin. "Warte kurz."

Sie verschwand im Feenhügel und kehrte mit dre Dingen zurück: einem Mantel, sehr sonderbar aussehenden Schuhen und mit einem Schwert.

"Nimm diesen Mantel", sagte der Kobold. "Er macht den Träger unsichtbar. Er wird `Mantel der Finsternis´ genannt. Schau!" Der Kobold legte sich den Mantel um und verlor sich samt dem Mantel außer Sicht in der Dunkelheit.

"Jetzt!" sagte er, als er den Mantel weg tat. "Hier ist ein Paar Schuhe. Man nennt sie die Schuhe der Schnelligkeit. Schau!"

Er zog sie an und fing zu gehen an. In einer Sekunde war er die Länge eines Feldes abgegangen.

"Nun schau dir dieses Schwert an! Ein kleiner Stupser genügt, um den stärksten Mann zu töten. Der Riese kennt die Macht des Schwertes."

"Aber", sagte Brid, "ich will niemanden töten, nicht einmal den Riesen."

 "Du brauchst ihn nicht zu töten, denn er wird die Macht des Schwertes verstehen und dich nicht veranlassen, es zu benutzen. Gib diese drei Dinge Shane. Sag ihm wie er sie benutzen muss.

Noch auf ein Wort. Gib mir alle diese Dinge zurück, wenn die Arbeit beendet ist."

Brid bedankte sich bei dem Kobold und verließ die Feen. Am nächsten Tag erzählte sie Eimer über ihren Besuch.

" Also, Liebe", sagte sie, "Gib diesen Mantel, diese Schuhe und diese Schwert Shane. Der Mantel wird ihn unsichtbar machen, die Schuhe werden ihn zu langen Schritten befähigen und das Schwert wird den Riesen so sehr erschrecken, dass er die Krone hergeben wird. Glücklicherweise ist jetzt gut sichtbarer Vollmond."

Der arme Shane war sehr unglücklich gewesen, weil er fürchtete, er würde Eimer niemals als Frau gewinnen. Groß war seine Freude, als Eimer ihm alles erzählte, was im Feenwald passiert war. Mitternacht schien ihm weit weg. Als die Zeit herankam, nahm er den Mantel, die Schuhe und das Schwert und machte sich auf zum Schwarzen Berg.

 

Der Riese war noch weit weg über dem Meer, um nachzusehen, welchen Plunder er noch finden konnte. Plötzlich sah Shane ihn näher kommen. Er nahm den Mantel der Dunkelheit. Der Riese schritt mit großen Schritten. Er überquerte den Graben mit einem Schritt. Dann stieg er den Berg hinauf und die andere Seite hinunter. Shane hatt den Mantel der Dunkelheit angezogen und konnte nicht gesehen werden; er wiederum sah alles, solange er den Mantel trug.

 

Er zog den Mantel aus und schlüpfte in die Schuhe der Schnelligkeit. Mit ihrer Hilfe sprang er über den Abgrund. Er stand vor dem Berg, als der Riese von der anderen Seite zurück kam. Das Schwert hielt Shane unter seinem rechten Arm versteckt.

 

"Wie wagt es ein Zwerg wie du hier her zu kommen?" schrie der Riese.

"Ich bin gekommen, um die Rückgabe der Königskrone zu fordern, die du gestohlen hast. Gib sie mir sofort!"

Der Riese brach in Lachen aus. "Wer bist du," sagte er, "dass du es wagst, so zu mir zu sprechen? Ein Schlag von meiner Hand würde dich leblos machen."

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Shane zog das Schwert aus der Hülle und sagte: "Und eine Berührung mit diesem Schwert würde dich leblos machen."

Der Riese stieß einen lauten Schrei aus - "Das magische Schwert der Schärfe", rief er. "Oh, steck dieses Schwert weg, und ich werde dir jeden Wunsch gewähren."

"Ich stecke das Schwert weg, sobald du mir die Krone gegeben hast."

"Komm mit mir", forderte der Riese Shane auf.

Er führte Shane in eine kleine Höhle an der Seite des Berges. Drinnen war die Krone. Sie war sorgfältig geschützt vor Feuchtigkeit und möglichem Schaden. Shane hatte das Schwert die ganze Zeit in der rechten Hand; mit der anderen erfasste er die Krone. Während er so tat bewegte er die rechte Hand. Der Riese schrak auf und bewegte sich erschreckt. Er fürchtete, Shane war dabei, ihn zu töten. Als er sich bewegte, rutschte er aus und fiel in die Tiefe in den bodenlosen Graben. Nun war er nicht mehr der Schrecken der Nachbarschaft.

 

Shane eilte fort. Mit den Schuhen der Schnelligkeit erreichte er den Feen-Treffpunkt, bevor sie aufgehört hatten zu feiern. Sie hießen ihn herzlich willkommen.

"Hier ist euer wertvolles Eigentum", sagte er. "Alle drei waren von großem Nutzen. Der Riese wird uns nicht mehr belästigen."

"Hast du ihn mit dem Schwert der Schärfe getötet?" fragte einer der Kobolde.

"Nein. Ich bin sehr froh, dass ich ihn nicht getötet habe."

"Warum sagst du dann, er wird uns nicht mehr belästigen?" fragte ein anderer Kobold.

"Weil er in den Graben fiel, und wir alle wissen, dass nie jemand mehr aus dem Graben heraus kam, tot oder lebendig."

Shane dankte den Kobolden und eilte fort. Er ging früh am nächsten Morgen zum Palast, bevor irgendjemand von der Familie wach war. Er suchte Brid.

 

"Oh, du bist ein Wunder, Brid!" sagte er. "Mit deinem Rat und deiner Hilfe habe ich die Krone zurück bringen können."

"Erzähl mir, wie du es getan hast!"

Shane gab Brid einen genauen Bericht seiner Abenteuer mit den Feen und dem Riesen.

"Jetzt"; sagte Brid, "müssen wir die Dinge so ordnen, dass die Familie eine große Überraschung erfährt. Ich werde die Krone in die Mitte des Tisches legen. Ich selbst werde mich hinter einer der Fenster-Vorhänge verstecken und das Ergebnis meines Plans beobachten."

"Ich werde jetzt weg gehen, Brid," sagte Shane.

"Das ist gut, aber um die Wahrheit zu sagen, du wirst nicht lange weg sein, bis du zurück kehrst."

 

Flann, seine Frau und seine Tochter kamen zusammen in das Zimmer. Sie standen ganz still vor Staunen, Staunen, das von Entzücken gefolgt wurde.

 "Oh, wer hat die Krone gefunden?" fragte der König.

"Ich kann diese Frage beantworten", sagte Brid, als sie aus ihrem Versteck herauskam.

"Oh, Brid, Brid, sag uns schnell, schnell, wie die Krone gefunden worden ist", befahl die Königin.

 

Eimers Herz schlug wild, aber sie blieb still.

"Mein König, ich kann dir nicht sagen, wie es gefunden wurde. Das muss ein Geheimnis bleiben. Aber ich kann dir sagen, wer es gesucht und heil zurück gebracht hat."

"Oh Brid," sagte der König mit einiger Ungeduld, "teile uns sofort mit, wer es zurück gebracht hat!"

Eimers Herz schlug noch stärker, als Brid antwortete: "Es ist niemand anderer als der tapfere Krieger Shane."


 

 

"Lasst ihn sofort hier her bringen!" sagte der König.

Die Königin legte ihre Arme um Eimer. Niemand sprach.

"Brid, mach weiter!" rief der König. "Warte nicht so lange und hole Shane her!"

 

Jetzt dauerte es nicht mehr lange, bis Shane erschien.

"Mein edler junger Mann!" sprach der König. "Wie kann ich dir danken? Meine Verbundenheit und und meine Zuneigung sollen meine Weigerung, dich als Schwiegersohn anzunehmen, wieder gut machen. Ich erkläre jetzt vor allen anderen Freiern, dass ich dich ausgewählt habe."


"Ich habe dich schon lange vorher ins Herz geschlossen", sagte die Königin, als sie Shanes Hand in die ihre nahm.

Eimer blieb still, aber sie war sehr glücklich.

 

Quellen

Sinéad de Valera: "Irish Fairy Tales" Pan Books Ltd London 1973